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Bruno Z'Graggen: Einführungsrede. Maria Zgraggen. Neue Arbeiten, Galerie Carla Renggli, Zug.


Guten Abend meine Damen und Herren.

Herzlichen Dank, Carla Renggli, für die nette Begrüssung. Ich freue mich, die Einführung zur Ausstellung von Maria Zgraggen mit dem Titel Neue Arbeiten halten zu dürfen. Die Künstlerin und ich sind seit einigen Jahren befreundet, aber nicht verwandt. Mein Vater stammt aus einer anderen Familie im Urner Land. Schön, hast du mich angefragt Maria – Danke vielmals!

Maria Zgraggen gewährt mir seit längerem mit grosser Offenheit einen Einblick in ihr Schaffen und ihre Lebenswelt. Meine Zusage zur Einführung erfolgte im Wissen, dass es eine Herausforderung wird, nicht nur weil ich es als Freund gut machen möchte. Die Kunst von Maria Zgraggen ist alles andere als gefällig, nicht leicht konsumier- und vermittelbar – das sei vorweg gesagt. Ihre ungegenständliche Malerei voller Rätsel fordert uns Betrachter einiges ab, gibt uns aber auch viel zurück.

Nun, welche Bedeutung haben die Neuen Arbeiten im Œuvre der Künstlerin? Welche künstlerische Haltung und Inspiration stehen dahinter? Was wollen uns die Werke sagen?

Vor gut einem halben Jahr erhielt Maria Zgraggen den renommierten Innerschweizer Kulturpreis für ihr über dreissigjähriges Schaffen. Die Ausstellung hier ist die erste nach der Preisverleihung, bei der von der Künstlerin wieder neue Arbeiten auf Leinwand zu sehen sind: 12 Leinwandbilder mit Acrylfarbe, zum Teil ergänzt mit Filz- oder Farbstift, davon ein Diptychon, weiter 10 kleinformatige Bilder mit Acrylfarbe, Bleistift, Filz- oder Farbstift auf Sperrholz und 12 kleinteilige, teilweise mit Acrylfarbe oder Sprühlack versehene Wandobjekte aus Metall, Holz oder anderen Materialien. Weitere Arbeiten sind für Interessierte im Galerielager einzusehen. Es handelt sich nach 2011 um die zweite Einzelausstellung hier in der Galerie. Die erste hatte sinnigerweise auch den Titel Neue Arbeiten. Zeitgleich zur Schau hier sind zwei malerische Rauminstallationen der Künstlerin in der Ausstellung Frisch gemalt im Museum Bruder Klaus in Sachseln zu sehen, einer Gruppenausstellung mit sieben Positionen, die sich um zeitgenössische Malerei dreht. Diese begann am 13. April und dauert noch bis am 15. Juni. Ein Besuch als Ergänzung zur Ausstellung hier lohnt sich, weil deutlich wird, inwiefern die räumliche Dimension ein zentrales Anliegen im Schaffen der Künstlerin ist.

Die Neuen Arbeiten von Maria Zgraggen entspringen einer künstlerischen Haltung, die geprägt ist von einem unermüdlichen Schaffensdrang, genährt durch eine unerschöpflich scheinende Inspiration. In ihr ruht ein Wille, aber auch eine unbändige spielerische Lust und Freude, ihr Werk weiter zu entwickeln. Neue Arbeiten bringen sie fortwährend auf neue Ideen. Maria Zgraggen gelingt es noch immer, sich selber mit neuen Bildwelten zu überraschen – und uns umso mehr! Ihrem malerischen Ausdruck liegen Farben, Pinselduktus, Formen und Komposition zugrunde. Sie hält hohe Ansprüche aufrecht an ihr Schaffen. Auch mit langjähriger Erfahrung ist nach wie vor Wagemut nötig, sich neue Arbeiten vorzunehmen – mit einem Œuvre im Rücken vielleicht viel mehr als in unbekümmerten jüngeren Jahren, weil die Erwartungen gestiegen sind. Die Erschaffung jeder neuen Arbeit beinhaltet die Gefahr des Scheiterns, umso mehr bei einer Künstlerin, die eine experimentelle Arbeitsweise verfolgt. Neue Werke wollen wie eh und je hart erarbeitet und erdauert sein.

Inspiration und Schaffenselixier schöpft Maria Zgraggen aus dem alltäglichen Leben, der Natur und Landschaft sowie aus der Kunst. Ihre Haltung ist geprägt durch Offenheit, Sensibilität und Neugierde. Als Kind betrachtete sie staunend die Bildwelten an der Decke der Schattdorfer Barockkirche. Vollends eingetaucht in den unermesslichen Kunstkosmos war sie in England, in Corsham und London, wo sie nach der Ausbildung in Luzern ab 1982 weitere absolvierte und 13 Jahre lang lebte. Sie verbrachte die wohl prägendsten Jahre ihrer Karriere in England – notabene mehr als ein Drittel ihrer künstlerischen Schaffenszeit: der Unterricht, der Austausch mit Lehrenden, Mitstudierenden und Künstlerfreunden, die unzähligen Atelier-, Ausstellungs- und Museumsbesuche, ein zeitweiliges riesiges eigenes Atelier in einer ehemaligen Fabrik wirkten nachhaltig. Sie ist seither in der Kunsttradition verwurzelt und lernte, offen zu sein für neue Strömungen. Dort in der Ferne, in einem kulturell fremden und harten gesellschaftlichen Kontext fand Maria Zgraggen als junge Frau ihre Identität, auch ihren Lebenspartner und als Künstlerin ihre Haltung, Interessen und Handschrift. Zu dieser Zeit fand in England zudem ein aufregender kultureller Umbruch statt in der Musik, aber auch in der Kunst, im Design und in der Mode. Ich bin überzeugt, diese Jahre klingen noch heute im künstlerischen Schaffen von Maria Zgraggen nach. Es wäre interessant, mit Dir einmal ausführlich darüber zu sprechen.

Als sich ihr und Bill Hodgkinson 1995 die Gelegenheit bot, hoch oben in der Bittleten am Eingang zum Schächental ihren Arbeits- und Lebensmittelpunkt einzurichten, zögerten die beiden nicht. Maria Zgraggen wusste, die Bittleten ist ein Ort, wo sie ihr Werk unter guten Rahmenbedingungen fortsetzen und neue Arbeiten schaffen konnte. Der Blick hinunter auf die Reussebene, in Berge und Himmel sollte ihr viel Inspiration geben. Sie sagt, es sei ein Freilichtkino mit grossartigen dreidimensionalen Stimmungsbildern, die sich augenblicklich verändern können und tagtäglich Anschauungsunterricht bieten. Die Impulse aus der Kunstwelt blieben und bleiben selbstverständlich wichtig. Aufenthalte in Rom, New York, Seoul und Budapest folgten. Daraus ging das räumliche Schaffen als Erweiterung hervor: Wandobjekte, räumliche Objekte und Rauminstallationen entstanden. Ein vorläufiger Höhepunkt bildet eine riesige Kunst im öffentlichem Raum Arbeit beim Schwerverkehrszentrum des Bundes bei Erstfeld von 2010. Die drei, fünf Meter hohen farbigen Betonovale sind sogar mit Feldstecher von der Bittleten aus zu sehen!

Bei den Leinwandmalereien hier in der Ausstellung, auf die ich mich im Folgenden fokussiere, liess sich Maria Zgraggen durch den Blumen- und Gemüsegarten beim Haus und die Landschaft inspirieren, was sich allenfalls durch Farb- und Lichtgebung sowie organische Elemente der Malweise erahnen lässt. Es liegt weder ein fotografisches Bildverständnis zugrunde, noch findet sich eine Zentralperspektive in den Bildern. Vielmehr interessiert die Künstlerin das Bildgefüge als Ganzes, die Bildräume und die Dynamik der Farben und Formen, die mitunter zu explodieren scheinen wie Natur in der Wachstumsphase im Frühjahr. Es geht ihr um universelle Themen wie das Wechselspiel von Gegensätzlichem: Anziehung und Abstossung, Nähe und Distanz, Leere und dichtes Neben-, Hinter- und Übereinander sowie das Aufeinanderprallen von heftiger Gestik und Filigranem. Satte Pinselstriche sind durchsetzt mit feinen Rinnspuren und Spritzern. Komplex geschichtete Flächen und lichterfü lltes Durchschimmern öffnen Durchblicke und tiefe Räume. Eine bunte Palette von Farbklängen ist aufgetragen mit einer Vorliebe zu gezähmten Pastellfarben. Zuweilen kontrastieren reine Farbtöne oder dunkle Stellen. Allen Bildern ist erstmals ein feiner Raster unterlegt, seien es horizontale, vertikale, netz- oder kreisförmige Linien, direkt aufgetragen auf ungrundierter Leinwand. Auf vielen Bildern ist der Raster grösstenteils übermalt, auf anderen schimmert er durch oder ist auf Leerstellen deutlich sichtbar. Maria Zgraggen schafft Spannungsfelder und lotet sie nach ästhetischen Gesetzmässigkeiten aus.

Ebensowenig wie es um Figuration geht, geht es nicht um konkrete Gefühle, innere Zustände und Bilder, noch um Träume weder um Unbewusstes der Künstlerin, obgleich die Werke energetisch aufgeladen, mit Emotionen gemalt sind und Dynamik ausstrahlen, die wir als Betrachter oft kaum aushalten. Eine psychologisierende Leseart würde an der Malerei von Maria Zgraggen vorbeizielen. Das verdeutlicht sich, wenn man sich ihre prozesshafte geduldige Arbeitsweise vor Augen führt. Auf einen ersten Blick könnte man meinen, arbeite sie in einem Rauschzustand und mit hohem Tempo. Das Gegenteil ist der Fall. Die vielen Trocknungsphasen der Farbe lassen dies nicht zu. Die Künstlerin spricht von einer «sachlichen und langatmigen Malweise» und einem neutralen Blick auf die einzelnen Bilder, auch von Distanz zu den Bildern. Sie arbeitete gleichzeitig und über die lange Dauer von drei Jahren an den gut 25 neuen Leinwandbildern für die Ausstellung. Die Bilder lagen abwechslungsweise nebeneinander auf dem Atelierboden, hingen an der Atelierwand oder waren hintereinander gestappelt, um auf die nächsten Eingriffe zu warten. Mit den ersten Pinselstrichen erhält jedes Bild seinen unverwechselbaren Charakter gesetzt, auf den die Malerin dialogisch eingeht. Sie nimmt beim Malen ihre Gefühle zurück. Es geht nicht um ihre Befindlichkeiten. Die Phasen des Trocknens nutzt sie zur Reflexion. Maria Zgraggen sagt von sich, sie sei eine «intellektuelle Malerin» – was erstaunt – und obendrein ein «detailversessener Kontrollfreak,» der dauernd Entscheidungen treffen und überprüfen muss. Es geht ihr stets um die visuellen Erfordernisse des Bildes. Farben und Formen, Striche oder Flächen werden nach kompositorischen Notwendigkeiten gesetzt. Ihre Person und Lebendigkeit bringt sie bei der Ausführung, beim Farbauftrag und der Malgeste ein mittels Körperbewegung, innerer Energie und Leidenschaft. Die Bilder werden Schritt fü r Schritt mit Leben der Künstlerin erfüllt und scheinen schliesslich zu pulsieren.

Maria Zgraggen arbeitet nicht nach einer Skizze oder Vorzeichnung. Sie vergleicht sich mit einer Freejazzerin, die improvisiert, wenn auch wesentlich langsamer. Sie setzt rhythmische Stilelemente ein: Bewegung und Pause, Spannung und Entspannung. Die Farbklänge muten akustisch wahrnehmbar an. Die Bilder sind lyrische Ereignisse und atmosphärische Momente. Für mich ist Maria Zgraggen längst zu einer Poetin, Zauberin oder Schamanin geworden, die uns in eine wundersame Welt der Farben und Formen führt. Die Bildrealität liegt jenseits einer heilen Welt. Neben leichten, fröhlichen und humorvollen Seiten weist sie dunkle und heftige Seiten auf mit Spuren voller Widersprüchlichkeiten, Zerrissenheit, Gewalt und Verletzlichkeit. Es liegt ihr fern, eine eindeutige Nachricht zu transportieren. Vielmehr lädt sie uns Betrachter auf eine abenteuerliche Entdeckungsreise ein, um uns ihre Bilder mit unseren Assoziationen und Gefühlen ergründen zu lassen. Selbst Titel als Anhaltspunkte fehlen.

Mir gefallen die Neuen Arbeiten von Maria Zgraggen ausgesprochen gut, allen voran die Leinwände und besonders das Bild hier rechts an der Wand, das als Sujet für die Einladungskarte dient. Mich dünkt der Pinselduktus und -strich, der Umgang mit Farbe und Form, kurz der künstlerische Ausdruck als Balanceakt zwischen Tiefgründigkeit und Leichtigkeit ist noch souveräner geworden, als es dieser ohnehin schon war. Die neuen Bilder muten malerisch grosszügiger und schwungvoller an, weniger knorrig und kleinflächig voll gemalt als frühere Arbeiten. Vielleicht sehen wir sogar die bislang besten Werke der Künstlerin? Jedenfalls scheint sie, aus dem Vollen zu schöpfen wie nie zuvor.

Ich habe die Grazer Poetikvorlesungen des kürzlich verstorbenen Urs Widmer gelesen, weil mich der Poesiebegriff im Zusammenhang mit Maria Zgraggens Werk interessiert. Widmer weist darauf hin, dass Wahrhaftigkeit und Zauber wichtige Kriterien hierfür sind. Analog zur darin wiederholt gestellten Frage, «Warum schreiben Sie?», stellte ich Maria die Frage, «Warum malst Du?» Sie antwortete mir: «Ich wäre eigentlich lieber Sängerin oder Schriftstellerin geworden. Als solche hätte ich weniger Platz benötigt. Ich kann aber nur malen – und nicht aufhören!», fügte sie dann noch an. Abschliessend kann ich nur sagen: Maria, wir warten wieder gerne auf Neue Arbeiten.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und wünsche Carla Renggli und Maria Zgraggen eine erfolgreiche Ausstellung und Ihnen allen eine schöne Vernissage.

Bruno Z'Graggen, Kunsthistoriker und freier Kurator, Zürich, 10. Mai 2014