Sibylle Omlin - Malen als Akt einer heimlichen
Verwandlung
ln ihrer Jugend ist Maria Zgraggen, so berichtet der Kunstkritiker
Aurel Schmidt, hundert Mal den Schulweg gegangen, ohne dass ihr
etwas Besonderes aufgefallen ist.' Eines Tages aber hat sie
angefangen, die Steine auf der Strasse von einander zu
unterscheiden. ln diesem Augenblick ist ihr die wohlvertraute
sichtbare Welt unsichtbar und fremd geworden..
Diesen Augenblick wiederholt Maria Zgraggen ständig von neuem:
in ihrer Malerei. Die alltägliche Welt wird zum Verschwinden
gebracht, dafür taucht eine neue Sicht auf die Dinge auf. Was
gemeinhin als vertraut angeschaut wird, entpuppt sich als etwas
fremdes. Das Künstlerische hat immer mit solchen
Vorgängen der Verwandlung zu tun.
Die Verwandlung in der Malerei der Künstlerin Maria Zgraggen
vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Erstens auf der Ebene der
Motive: Dinge, die eigentlich aus einer alltäglichen Welt
stammen - Gesichter, Tierkörper, Uhren, Puppen, ein kleines
Auto, füsse, Kreuze, Leitern, Türgriffe - werden in
Zgraggens Bildern ohne sinnvollen Zusammenhang, isoliert von ihrem
ursprünglichen Kontext ins Bild hineingemalt oder
hineingezeichnet. Zweitens auf der Ebene des Bildraums: Der
Bildraum ist bei Maria Zgraggen nie perspektivisch aufgebaut. Sie
scheint die farbe und die Gegenstände gleichzeitig von allen
Rändern her ins Bild hineinzutreiben, so dass sich die
farbschichten und die Ebenen der zeichnerischen figuration
ineinander verknoten und verklumpen. Was allenfalls noch als
gegenständlich aufscheint, wird ohnehin schon vom Kontext
losgelöst - in den Taumel einer perspektivischen
Bezugslosigkeit gebracht. Die gemalten Zeichen und flächen
drängen in unheimlichen Begegnungen zu einem Konglomerat von
figürlichkeit, die immer weniger zu entschlüsseln ist. ln
den neuen Bildern hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Die
Kombination von Unzusammengehörigem und die uneindeutige
Situation im Bildraum bilden die wesentlichen Bestandteile einer
lrritation, die sich mit jedem Bild mit neuer Vehemenz
einstellt.
Die Vorsilbe «un-» trage die Marke der
Verdrängung, hat Sigmund Freud geschrieben. In seiner Studie
über des «Unheimliche» hat Freud das Wort mit
einer philologischen Untersuchung über sein Gegenteil - das
Vertraute, das Heimliche - Kontur gewinnen lassen. Das Heimliche
selber birgt in sich eine Komponente des Versteckten und
Verborgenen, welches die Heimlichkeit zwischen dem Behaglichen und
dem geheimnisvollen Unerwarteten pendeln lässt. Unheimlich ist
alles, was ein Geheimnis bleiben sollte, aber hervorgetreten ist.
Auch ein Moment der unbeabsichtigten Wiederholung kann das Harmlose
unheimlich machen.
In diesem Begriff des Unheimlichen steckt ein Kern, der an die
Malerei von Maria Zgraggen heranführt: das enge Nebeneinander
von Vertrautem und Unvertrautem. Zentral für das
Verständnis von Maria Zgraggens Bildern ist das enge
Nebeneinander von Farbe, welche über figurationen
Bedeutungsträgerin sein kann, und von farbe, die -
grossflächig, schnell und nonchalant aufgetragen - alles an
möglichem Sinn wieder zuwischt, verbirgt. Die gemalte farbe
erscheint als Trägerin und als Verdrängerin
zugleich.
Ich bin nicht die einzige, die im Zusammenhang von Maria Zgraggens
Malerei von paradoxalen Situationen spricht. Viele Autoren haben
bereits von scheinbar unvereinbaren Situationen in dieser Malerei
geschrieben.' Mich interessiert im Speziellen, woher dieses
Gefühl des Unvermuteten, des Unvertrauten im Auftauchen der
Heftigkeit der farben und der ineinander verknäuelten Sujets
herrühren mag. Ein Gespräch mit der Künstlerin
brachte mich auf eine Spur. Während sie erzählte, welche
Arbeiten in ihrer nahenden Ausstellung zu sehen sein werden,
brachte Maria Zgraggen die Rede immer wieder auf ihre
Malerei-Objekte, die Klötze, von denen sie zum ersten Mal eine
ganze Reihe zu zeigen bereit ist. Die Künstlerin betonte, dass
diese Malereien auf Holzquadern, die sie als Abfall in ihrem
Atelier herumliegen hatte, von äusserster Wichtigkeit für
ihre Arbeit seien. Die Holz-Objekte hatten den Malprozess über
die Jahre hinweg begleitet.
Meine Neugierde wuchs, da ich immer wieder feststelle, dass Dinge,
die neben den Kunstwerken nur als Spuren eines Prozesses
zurückbleiben, von aufschlussreichem Wesen sind. Das, was
Kunstschaffende oft jahrelang als Abfall, als beiläufiges
Herumsuchen, als Nebenprodukte wahrnehmen, verrät zentrale
Intensionen in einem Werk, in einem Verwandlungsprozess. Als ich
diese Holz-Objekte von Maria Zgraggen bei ihrem Galeristen in Basel
ausgelegt auf einem Tisch betrachtete, erkannte ich, warum sie der
Malerin heute so wichtig sind, dass sie sie als eigenständige
Werke in die Ausstellung integriert: Auf diesen klobigen
Holzstücken von geringer Dimension, die mit einer Malerei auf
fünf Seiten bemalt sind, zeigt sich der Zusammenprall, die
Heftigkeit in Maria Zgraggens Malerei auf zusammengedrängtem
Raum.
Klotzes rundhgrum geführt. Gleichwohl ist zusehen, dass die
Malerei auf jeder Seite neu ansetzt. Sie wird durch die Kante
gebremst, zum Teil recht abrupt. So ist die Künstlerin
gezwungen, das, was auf der anderen Seitenfläche des Klotzes
liegt und nicht sichtbar ist, weiterzuführen und neu zu
beginnen. Das Heimliche und das Verborgene, das Sichtbare und das
Aufzudeckende liegen dicht beieinander. Dieses Abbrechen und
Neu-Ansetzen, dieses Weiterführen einer form, einer
fläche, eines Motivs nach einem Abbremsen gleicht der Malweise
der Künstlerin auf der planen Leinwand.
Der Tanz der divergierenden Bewegungen, den Maria Zgraggen auf den
Holzobjekten vollzieht, finden wir in den Bildern wieder. Und es
ist anzunehmen, dass dieser gestockte Malprozess um alle Kanten und
Ecken eines kleinen Holzquaders herum der Malerei auf der grossen
Bildfläche diese Energie zuführt, von der wir eigentlich
nicht genau wissen, woher sie kommt.
Maria Zgraggen offenbart uns mit der Präsentation der
Holz-Objekte dieses kleine Geheimnis, das aber heimlich bleiben
kann, denn die Malerei auf der Leinwand führt den Tanz der
Verwandlung vergrössert und ebenso voller Überraschung
vor.
aus: Galerie Carzaniga + Ueker AG (Hrsg.), Maria Zgraggen (Ausstellungskatalog), Basel 2004
(Sibylle Omlin, Kunstwissenschaftlerin, Publizistin und Direktorin der Ecole cantonale d'art du Valais ECAV, Sierre)
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