☰    Maria Zgraggen

Sibylle Omlin - Malen als Akt einer heimlichen Verwandlung

ln ihrer Jugend ist Maria Zgraggen, so berichtet der Kunstkritiker Aurel Schmidt, hundert Mal den Schulweg gegangen, ohne dass ihr etwas Besonderes aufgefallen ist.' Eines Tages aber hat sie angefangen, die Steine auf der Strasse von einander zu unterscheiden. ln diesem Augenblick ist ihr die wohlvertraute sichtbare Welt unsichtbar und fremd geworden..

Diesen Augenblick wiederholt Maria Zgraggen ständig von neuem: in ihrer Malerei. Die alltägliche Welt wird zum Verschwinden gebracht, dafür taucht eine neue Sicht auf die Dinge auf. Was gemeinhin als vertraut angeschaut wird, entpuppt sich als etwas fremdes. Das Künstlerische hat immer mit solchen Vorgängen der Verwandlung zu tun.

Die Verwandlung in der Malerei der Künstlerin Maria Zgraggen vollzieht sich auf mehreren Ebenen. Erstens auf der Ebene der Motive: Dinge, die eigentlich aus einer alltäglichen Welt stammen - Gesichter, Tierkörper, Uhren, Puppen, ein kleines Auto, füsse, Kreuze, Leitern, Türgriffe - werden in Zgraggens Bildern ohne sinnvollen Zusammenhang, isoliert von ihrem ursprünglichen Kontext ins Bild hineingemalt oder hineingezeichnet. Zweitens auf der Ebene des Bildraums: Der Bildraum ist bei Maria Zgraggen nie perspektivisch aufgebaut. Sie scheint die farbe und die Gegenstände gleichzeitig von allen Rändern her ins Bild hineinzutreiben, so dass sich die farbschichten und die Ebenen der zeichnerischen figuration ineinander verknoten und verklumpen. Was allenfalls noch als gegenständlich aufscheint, wird ohnehin schon vom Kontext losgelöst - in den Taumel einer perspektivischen Bezugslosigkeit gebracht. Die gemalten Zeichen und flächen drängen in unheimlichen Begegnungen zu einem Konglomerat von figürlichkeit, die immer weniger zu entschlüsseln ist. ln den neuen Bildern hat sich diese Tendenz noch verstärkt. Die Kombination von Unzusammengehörigem und die uneindeutige Situation im Bildraum bilden die wesentlichen Bestandteile einer lrritation, die sich mit jedem Bild mit neuer Vehemenz einstellt.

Die Vorsilbe «un-» trage die Marke der Verdrängung, hat Sigmund Freud geschrieben. In seiner Studie über des «Unheimliche» hat Freud das Wort mit einer philologischen Untersuchung über sein Gegenteil - das Vertraute, das Heimliche - Kontur gewinnen lassen. Das Heimliche selber birgt in sich eine Komponente des Versteckten und Verborgenen, welches die Heimlichkeit zwischen dem Behaglichen und dem geheimnisvollen Unerwarteten pendeln lässt. Unheimlich ist alles, was ein Geheimnis bleiben sollte, aber hervorgetreten ist. Auch ein Moment der unbeabsichtigten Wiederholung kann das Harmlose unheimlich machen.

In diesem Begriff des Unheimlichen steckt ein Kern, der an die Malerei von Maria Zgraggen heranführt: das enge Nebeneinander von Vertrautem und Unvertrautem. Zentral für das Verständnis von Maria Zgraggens Bildern ist das enge Nebeneinander von Farbe, welche über figurationen Bedeutungsträgerin sein kann, und von farbe, die - grossflächig, schnell und nonchalant aufgetragen - alles an möglichem Sinn wieder zuwischt, verbirgt. Die gemalte farbe erscheint als Trägerin und als Verdrängerin zugleich.

Ich bin nicht die einzige, die im Zusammenhang von Maria Zgraggens Malerei von paradoxalen Situationen spricht. Viele Autoren haben bereits von scheinbar unvereinbaren Situationen in dieser Malerei geschrieben.' Mich interessiert im Speziellen, woher dieses Gefühl des Unvermuteten, des Unvertrauten im Auftauchen der Heftigkeit der farben und der ineinander verknäuelten Sujets herrühren mag. Ein Gespräch mit der Künstlerin brachte mich auf eine Spur. Während sie erzählte, welche Arbeiten in ihrer nahenden Ausstellung zu sehen sein werden, brachte Maria Zgraggen die Rede immer wieder auf ihre Malerei-Objekte, die Klötze, von denen sie zum ersten Mal eine ganze Reihe zu zeigen bereit ist. Die Künstlerin betonte, dass diese Malereien auf Holzquadern, die sie als Abfall in ihrem Atelier herumliegen hatte, von äusserster Wichtigkeit für ihre Arbeit seien. Die Holz-Objekte hatten den Malprozess über die Jahre hinweg begleitet.

Meine Neugierde wuchs, da ich immer wieder feststelle, dass Dinge, die neben den Kunstwerken nur als Spuren eines Prozesses zurückbleiben, von aufschlussreichem Wesen sind. Das, was Kunstschaffende oft jahrelang als Abfall, als beiläufiges Herumsuchen, als Nebenprodukte wahrnehmen, verrät zentrale Intensionen in einem Werk, in einem Verwandlungsprozess. Als ich diese Holz-Objekte von Maria Zgraggen bei ihrem Galeristen in Basel ausgelegt auf einem Tisch betrachtete, erkannte ich, warum sie der Malerin heute so wichtig sind, dass sie sie als eigenständige Werke in die Ausstellung integriert: Auf diesen klobigen Holzstücken von geringer Dimension, die mit einer Malerei auf fünf Seiten bemalt sind, zeigt sich der Zusammenprall, die Heftigkeit in Maria Zgraggens Malerei auf zusammengedrängtem Raum.

Klotzes rundhgrum geführt. Gleichwohl ist zusehen, dass die Malerei auf jeder Seite neu ansetzt. Sie wird durch die Kante gebremst, zum Teil recht abrupt. So ist die Künstlerin gezwungen, das, was auf der anderen Seitenfläche des Klotzes liegt und nicht sichtbar ist, weiterzuführen und neu zu beginnen. Das Heimliche und das Verborgene, das Sichtbare und das Aufzudeckende liegen dicht beieinander. Dieses Abbrechen und Neu-Ansetzen, dieses Weiterführen einer form, einer fläche, eines Motivs nach einem Abbremsen gleicht der Malweise der Künstlerin auf der planen Leinwand.

Der Tanz der divergierenden Bewegungen, den Maria Zgraggen auf den Holzobjekten vollzieht, finden wir in den Bildern wieder. Und es ist anzunehmen, dass dieser gestockte Malprozess um alle Kanten und Ecken eines kleinen Holzquaders herum der Malerei auf der grossen Bildfläche diese Energie zuführt, von der wir eigentlich nicht genau wissen, woher sie kommt.

Maria Zgraggen offenbart uns mit der Präsentation der Holz-Objekte dieses kleine Geheimnis, das aber heimlich bleiben kann, denn die Malerei auf der Leinwand führt den Tanz der Verwandlung vergrössert und ebenso voller Überraschung vor.

aus: Galerie Carzaniga + Ueker AG (Hrsg.), Maria Zgraggen (Ausstellungskatalog), Basel 2004

(Sibylle Omlin, Kunstwissenschaftlerin, Publizistin und Direktorin der Ecole cantonale d'art du Valais ECAV, Sierre)