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Aurel Schmidt - Bilder an der Grenze



   I
   Kunstwerke fallen nicht vom Himmel, sie werden gemacht. Häufig gibt das Leben des Künstlers sowohl die Voraussetzung als den Stoff dazu her; manchmal kommt es sogar vor, dass Künstler um ihr Leben malen. Die Werke von Maria Zgraggen haben mit ihr zu tun, ihrer Person, ihrer Verfassung. Dass sie beim Malen manchmal bis an die Grenze der Auflösung geht, kann man sehen. Aber was man zu allererst sieht, sind Farben auf der Leinwand und Spuren, denen man wie auf einer Landkarte folgen kann beziehungsweise folgen muss, um zu begreifen, was geschehen und was gemeint ist. Das Bild als Kunstwerk entsteht an der Oberfläche, die bekanntlich das Tiefste ist, aber die Bildfläche ist nur ein Durchgang, an dessen Ende das Licht erscheint. Von aussen geht der Weg nach innen, von innen führt er nach draussen.
   Das Kunstwerk ist die Grenze, die dazwischenliegt, der Check-point. Insofern ist es gewissermassen eine doppelte Konstruktion: einmal Objekt, also Ergebnis des Malaktes, und einmal Vision, also etwas, das mit Sehen, mit der Fähigkeit, sich ein Bild zu machen, zu tun hat. Was ich sehe, ist das Bildobjekt, aber dieses Objekt, das ein Bild ist, das ich sehen kann, ist auch eine Botschaft, die interpretiert und verstanden werden kann.
   Wenn das kompliziert erscheinen sollte, dann liegt das an der Komplexität des Kunstvorgangs, der mit Materie ebenso wie mit Mentalität zu tun hat. Etwas geht draussen und im Inneren vor, und die Zusammenführung beider Abläufe ergibt das Kunstwerk.

   II
   Was auf den Bildern von Maria Zgraggen nicht nur sofort auffällt, sondern sich geradezu auf den Betrachter stürzt, ist der wild herausfahrende Duktus des Pinsels, der auf der Bildlfäche einen Weg zurückgelegt hat und ein Ereignis markiert. Das ist gestische Malerei der besten Art. Hier hat sich eine Intensität auf einem hohen Erregungs- und Entladungsniveau manifestiert. Maria Zgraggen was here! Man sieht, Die Bilder sind mit der Bewegung und dem Schwung des Arms gemalt, sogar mit dem ganzen Körper, der beim Vorgang des Malens eingesetzt wird. Daher auch die Bildformate, die von der körperlichen Ausführung abhängig sind, das heisst von der Reichweite des Arms beim Malen; und daher die ganz andere Vorgehensweise und Absicht bei den Installation, die kleinformatig sind und eine Reduktion beziehungsweise Konzentration auf Zeichen und Symbole unumgänglich machen. Die gestische Malerei ist eine schnelle Malerei, davon lebt sie und geht ihre Wirkung aus. Umso überraschender ist es, wenn man zur Kenntnis nehmen muss, dass die Werke von Maria Zgraggen, wenn der erste Anlauf abgeschlossen ist, durch eine langsame und beharrliche Arbeit Schritt für Schritt fortgesetzt werden. Die Künstlerin arbeitet an einem Bild, stellt es beiseite, holt es wieder hervor. Sie malt, übermalt, malt weiter. Die Bilder müssen reifen - in völligem Widerspruch zur gestischen Geschwindigkeit. Fast müsste man von einem Ausbruch im Zeitlupentempo sprechen, bei dem jede Phase genau beobachtet werden kann.
   Ausschlaggebend ist, dass die Bilder einen Rhythmus, einen Klang bekommen, dass eine Komposition (das heisst Zusammenstellung) entsteht. Auf jeden malerischen Akzent kommt ein Gegenakzent, bis die Valeurs so verteilt sind, dass sich ein sensibles Gleichgewicht ergibt, jedoch keine Ausgewogenheit. Und zwar deshalb nicht, weil die Bilder kein Zentrum haben, sondern aus lauter internen Relationen und Komplementaritäten bestehen. Einer Gelbfläche an einer Stelle entspricht zum Beispiel ein heftiger Grün- oder Blauauftrag an einer anderen. Alle Farben und gegenständlichen Andeutungen korrespondieren miteinander und ergänzen sich, oft über Distanz hinweg.
   Der Blick, der über das Bild gleitet, findet nirgends einen Ruhepunkt. Er muss weiter gleiten und in jedem Augenblick einen Punkt suchen, zu dem er eine neue Beziehung, einen neuen Ausgleich herstellen kann, ohne dabei je an ein Ende zugelangen. Die Werke von Maria Zgraggen kommen, so gesehen, keinen Augenblick lang zur Ruhe; sie sind ununterbrochen in Bewegung; sie hören nie auf.

   III
   In diesem Umstand liegt zweifellos der Grund für die Beunruhigung, die von den Bildern ausgeht, aber es ist auch, was ihre stupende Kraft ausmacht. Einerseits kann jeder und jede erkennen, dass hier ein äusserster Punkt der Erfahrung erreicht worden ist, der mit dem äussersten Punkt der Darstellbarkeit zusammen fällt; andererseits ist das genau das künstlerische Ziel, auf das es Maria Zgraggen ankommt. Die Emotionen werden nicht unterdrückt, die Energieströme zirkulieren ungehindert auf der Bildfläche. Wer getraut sich, so weit zu gehen und es auch noch zu zeigen? Jeder Schutz ist entfallen, die entstandene Rückhaltlosigkeit mit einer grossen Verletzbarkeit verbunden. Aber das ist auch der Weg zu deren Überwindung und zur Erlangung einer neuen persönlichen und künstlerischen Souveränität. "Ich kann nicht aufhören", sagt Maria Zgraggen. Sie hätte auch sagen können Ich kann nur malen; ich habe nur mein Leben, das ich einsetzen kann. Kunst wird so zu einem Programm, zu einem unausweichlichen Auftrag. Die Entäusserung als existenzielles Wagnis ist eine Technik (im Sinn von Beherrschung) des Lebens und der Kunst. Was wie Leere, Auflösung, Abgrund von bedrohlichem Ausmass aussieht, stellt sich dann als etwas Anderes heraus als entschlossene Überschreitung von Grenzen; als Befreiung eines auferlegten Anpassungs- und Konformitätsdrucks. Orientierung und Ordnung sind Einschränkungen, die nicht mehr hingenommen werden. Das Nichtzurückgehaltene, Offene, unter Umständen Chaotische in der Malerei von Maria Zgraggen (oder das, was auf den ersten Blick danach aussieht) bildet so einen Akt des Widerstands und der Selbstbehauptung; eine Art und Weise, sich zu verwirklichen. Wenn die Künstlerin also sagt, dass sie nur malen kann, dann heisst das nichts anderes, als dass sie ihr Leben gestaltet. Oder anders ausgedrückt Ich male, also bin ich. Die künstlerische Tätigkeit, selbst ein Gestalten, leistet Hilfe zum Sein und weist zugleich auf den parallelen Prozess von Leben und Kunst hin.

Basel, 2004

(Aurel Schmidt, freier Schriftsteller und Publizist, Basel)